Flucht von Urasoe in den Süden
“Flucht von Urasoe in den Süden”
Tomiko Ōta (86)
(Geburtsort: Jitchaku, Urasoe-shi, Okinawa)
Ich war 14, als am 10. Oktober die Amerikaner zum ersten Mal den Flughafen Yomitan angriffen. Dann flogen sie über das Meer weiter nach Naha und bombardierten die Stadt, bis sie von Rauch eingehüllt war. Man hörte das Donnern der Bomben, sah den Rauch und hörte die lauten Rufe: „Fliegeralarm! Fliegeralarm!“
Ich erinnere mich noch, wie ich mit einem Bündel Schulbücher unter dem Arm in eine kleine Grube vor unserem Haus geflüchtet bin. Am nächsten Tag hörten die Luftangriffe auf und wir hatten bis in den März hinein Ruhe.
Etwa um den 22. März hörten wir in den Nachrichten, dass Kriegsschiffe die Inseln Tsukenjima und Kudakajima beschossen hatten. Daraufhin lud mein Vater die Frau meines Bruders mit ihren Kindern und eine jüngere Schwester auf den Pferdewagen und brachte sie nach Kawasaki in Sicherheit. Auf dem Rückweg muss ihm etwas zugestoßen sein, denn er kam nicht mehr nach Jitchaku zurück.
Drei Monate nachdem die US-Armee auf Okinawa gelandet war, kamen wir bei meiner zweitältesten Schwester unter, in Sueyoshi, einem Ortsteil von Shuri. Wir versteckten uns dort in einer Grabkammer, die wir geöffnet hatten. Unterhalb der Burg Shuri lag der Hauptstützpunkt der japanischen Armee, der von den amerikanischen Schiffen Tag und Nacht beschossen wurde. Das konnten wir von Sueyoshi aus beobachten.
Meinem Vater war Jitchaku wohl zu unsicher, weil es direkt an der Küste liegt und damit zu rechnen war, dass die Amerikaner es sofort angreifen würden, sobald sie an Land gingen. Deshalb ließ er uns fliehen. Als wir nach dem Krieg zurückkamen, war jedoch weit und breit keine einzige Gewehrkugel zu finden. Einige Häuser wären abgebrannt, aber wahrscheinlich hatten die dort stationierten japanischen Soldaten das Feuer gelegt.
Das Grab, das uns als Bunker diente, wurde am 29. April von Schiffsartillerie getroffen. Wir waren den ganzen Tag darin geblieben, weil die Bomber seit den Morgenstunden ohne Unterbrechung flogen. Gegen Abend setzen die Luftangriffe aus und die Kinder wollten alle raus, weil sie mal mussten. Als gerade wieder alle zurück waren, trafen zwei Granaten hintereinander das versteckte Grab. Am Eingang, wo meine Mutter und ich uns befanden, türmte die Druckwelle einen Berg Erde auf. Der Innenraum war von Erde verschlossen. Wir liefen zum Haus von Verwandten, um Hilfe zu holen. Ein japanischer Soldat, der auch dort war, kam mit zum Grab. „Unter den Erdmassen kann keiner überlebt haben. Wartet, bis der Krieg vorbei ist. Dann könnt ihr sie ausgraben und bestatten. Lasst jetzt alles, wie es ist“, befahl er uns. Wir leisteten ihm Folge.
Meine Mutter weinte. Der Gedanke, dass die Kinder dort drin begraben waren, zerriss mir das Herz. Acht Menschen kamen dabei ums Leben: Meine ältere Schwester und ihre fünf Kinder, meine Großmutter sowie meine jüngste Schwester.
Wir gingen danach zum Erdbunker der Schwiegereltern meiner zweitältesten Schwester in Sueyoshi. Anschließend flohen wir alle zusammen nach Shimajiri im Süden der Insel.
In einem Wäldchen in der Nähe von der Residenz des Gouverneurs gab es einen kleinen Bunker, in dem wir alle Unterschlupf fanden. Am nächsten Tag liefen wir zu Fuß nach Tsukazan und von dort weiter nach Yoza. Da dort jedoch auch Flugzeuge flogen, machten sich die Anderen aus Sueyoshi auf den Weg nach Tamagusuku.
Meine Mutter wollte zum Kap Kyan, weil sie dort ihre älteste Tochter vermutete, die zur Armee gehörte. Tatsächlich war meine älteste Schwester jedoch nach Tamagusuku gegangen, wie ich später erfuhr, weil eine Mitschülerin sie dort gesehen hatte. Im Nachhinein wären wir dort besser aufgehoben gewesen.
(Der Weg nach Kyan)
Wir kamen an einem abgebrannten Haus vorbei, in dessen einer Ecke aus Steinen ein Luftschutzraum gemauert war. Meine Mutter hatte sich ihren Fuß verletzt und sagte, sie schaffe es nicht mehr bis nach Kyan. „Ich bleibe hier, tot oder lebendig.“ Also versteckten wir uns dort.
Durch Ritzen in der Steinmauer konnten wir rausgucken und sahen Soldaten, die Schüsse abgaben. Wir fürchteten um unser Leben, wenn wir einfach nur hier im Versteck bleiben würden.
Bald merkten wir jedoch, dass auf die Flüchtlinge, die zu Fuß aus Kyan kamen, nicht geschossen wurde. Sie feuerten nur auf diejenigen, die sich versteckten – wer einfach nur vorbeilief, blieb unbehelligt. Das beruhigte uns.
Als der Fluss der Fliehenden abriss, kam ein amerikanischer Soldat auf unseren Luftschutzraum zu. Ich hatte Angst, dass er uns erschießen würde, wenn er uns im Versteck fand und lief daher mit erhobenen Händen heraus. Der überraschte Soldat richtete sein Gewehr auf mich und starrte mich an. „Kinasai“ („Komm her“) rief er. Ich rief zurück: „Komm du her. Hier drin liegt noch jemand, also komm du her.“ Aber der Amerikaner hielt nur stumm das Gewehr auf mich gerichtet. „Der Soldat ist vielleicht wütend. Ich gehe lieber vor“, sagte ich zu meiner Mutter. In diesem Moment traf ein Schuss die Steine neben mir und Steinsplitter flogen umher. „Er schießt auf mich!“ rief ich und rannte auf ihn zu. Der Soldat führte mich allein zu einem Banyanbaum neben einem Brunnen, wo noch etwa 15 andere Flüchtlinge warteten. Dann gingen wir alle in einer Reihe los, mit zwei Soldaten an der Spitze. Ich lief langsam am Ende und weil die Soldaten sich nicht umdrehten, machte ich kehrt und rannte zurück zum Luftschutzraum. Auf dem Weg schöpfte ich Wasser. Ich kochte sofort Reisbrei und ließ meine Mutter essen.
Am nächsten Tag kamen zwei Einheimische mit einer Trage zum Bunker, um meine Mutter zu holen. Sie hatten am Vortag gehört, wie ich gerufen hatte: „Hier ist noch jemand.“ Ich lief hinterher.
Wir wurden als Kriegsgefangene in ein Lager in Tomigusuku gebracht.
Meine Mutter hatte immer Zucker dabei und fütterte mich während unserer Flucht damit. Ich hatte nicht darum gebeten, aß aber, was meine Mutter mir den Mund steckte. Meine Mutter muss hungrig gewesen sein, denn sie gab immer nur mir zu essen und nahm selbst nichts.
(Tod der Mutter im Lager)
Ein Soldat und eine Frau, die eine Art Krankenschwester zu sein schien, fühlten nacheinander den Puls meiner Mutter. „Sie ist tot“, sagten sie, und riefen noch andere Leute herbei. Sie trugen meine Mutter auf einer Bahre zu einem großen Loch am Fuße des Berges und begruben sie dort. Eine alte Frau, die dabei war, wies mich an: „Es ist deine Mutter, also setz dich hin und falte die Hände zusammen.“ Ich setzte mich also direkt daneben und legte die Handflächen aufeinander.
(Meine Botschaft an die nächste Generation)
Den jungen Leuten von heute möchte ich sagen: „Ihr habt Glück, dass ihr in Frieden leben könnt. Damals im Krieg waren wir ständig auf der Flucht und viele wurden erschossen. Heute herrscht Frieden und wer ordentlich arbeitet, kann auch gut leben. Kümmert euch auch um eure Eltern.“ Das ist meine Botschaft.
Tomiko Ōta (86)
(Geburtsort: Jitchaku, Urasoe-shi, Okinawa)
Ich war 14, als am 10. Oktober die Amerikaner zum ersten Mal den Flughafen Yomitan angriffen. Dann flogen sie über das Meer weiter nach Naha und bombardierten die Stadt, bis sie von Rauch eingehüllt war. Man hörte das Donnern der Bomben, sah den Rauch und hörte die lauten Rufe: „Fliegeralarm! Fliegeralarm!“
Ich erinnere mich noch, wie ich mit einem Bündel Schulbücher unter dem Arm in eine kleine Grube vor unserem Haus geflüchtet bin. Am nächsten Tag hörten die Luftangriffe auf und wir hatten bis in den März hinein Ruhe.
Etwa um den 22. März hörten wir in den Nachrichten, dass Kriegsschiffe die Inseln Tsukenjima und Kudakajima beschossen hatten. Daraufhin lud mein Vater die Frau meines Bruders mit ihren Kindern und eine jüngere Schwester auf den Pferdewagen und brachte sie nach Kawasaki in Sicherheit. Auf dem Rückweg muss ihm etwas zugestoßen sein, denn er kam nicht mehr nach Jitchaku zurück.
Drei Monate nachdem die US-Armee auf Okinawa gelandet war, kamen wir bei meiner zweitältesten Schwester unter, in Sueyoshi, einem Ortsteil von Shuri. Wir versteckten uns dort in einer Grabkammer, die wir geöffnet hatten. Unterhalb der Burg Shuri lag der Hauptstützpunkt der japanischen Armee, der von den amerikanischen Schiffen Tag und Nacht beschossen wurde. Das konnten wir von Sueyoshi aus beobachten.
Meinem Vater war Jitchaku wohl zu unsicher, weil es direkt an der Küste liegt und damit zu rechnen war, dass die Amerikaner es sofort angreifen würden, sobald sie an Land gingen. Deshalb ließ er uns fliehen. Als wir nach dem Krieg zurückkamen, war jedoch weit und breit keine einzige Gewehrkugel zu finden. Einige Häuser wären abgebrannt, aber wahrscheinlich hatten die dort stationierten japanischen Soldaten das Feuer gelegt.
Das Grab, das uns als Bunker diente, wurde am 29. April von Schiffsartillerie getroffen. Wir waren den ganzen Tag darin geblieben, weil die Bomber seit den Morgenstunden ohne Unterbrechung flogen. Gegen Abend setzen die Luftangriffe aus und die Kinder wollten alle raus, weil sie mal mussten. Als gerade wieder alle zurück waren, trafen zwei Granaten hintereinander das versteckte Grab. Am Eingang, wo meine Mutter und ich uns befanden, türmte die Druckwelle einen Berg Erde auf. Der Innenraum war von Erde verschlossen. Wir liefen zum Haus von Verwandten, um Hilfe zu holen. Ein japanischer Soldat, der auch dort war, kam mit zum Grab. „Unter den Erdmassen kann keiner überlebt haben. Wartet, bis der Krieg vorbei ist. Dann könnt ihr sie ausgraben und bestatten. Lasst jetzt alles, wie es ist“, befahl er uns. Wir leisteten ihm Folge.
Meine Mutter weinte. Der Gedanke, dass die Kinder dort drin begraben waren, zerriss mir das Herz. Acht Menschen kamen dabei ums Leben: Meine ältere Schwester und ihre fünf Kinder, meine Großmutter sowie meine jüngste Schwester.
Wir gingen danach zum Erdbunker der Schwiegereltern meiner zweitältesten Schwester in Sueyoshi. Anschließend flohen wir alle zusammen nach Shimajiri im Süden der Insel.
In einem Wäldchen in der Nähe von der Residenz des Gouverneurs gab es einen kleinen Bunker, in dem wir alle Unterschlupf fanden. Am nächsten Tag liefen wir zu Fuß nach Tsukazan und von dort weiter nach Yoza. Da dort jedoch auch Flugzeuge flogen, machten sich die Anderen aus Sueyoshi auf den Weg nach Tamagusuku.
Meine Mutter wollte zum Kap Kyan, weil sie dort ihre älteste Tochter vermutete, die zur Armee gehörte. Tatsächlich war meine älteste Schwester jedoch nach Tamagusuku gegangen, wie ich später erfuhr, weil eine Mitschülerin sie dort gesehen hatte. Im Nachhinein wären wir dort besser aufgehoben gewesen.
(Der Weg nach Kyan)
Wir kamen an einem abgebrannten Haus vorbei, in dessen einer Ecke aus Steinen ein Luftschutzraum gemauert war. Meine Mutter hatte sich ihren Fuß verletzt und sagte, sie schaffe es nicht mehr bis nach Kyan. „Ich bleibe hier, tot oder lebendig.“ Also versteckten wir uns dort.
Durch Ritzen in der Steinmauer konnten wir rausgucken und sahen Soldaten, die Schüsse abgaben. Wir fürchteten um unser Leben, wenn wir einfach nur hier im Versteck bleiben würden.
Bald merkten wir jedoch, dass auf die Flüchtlinge, die zu Fuß aus Kyan kamen, nicht geschossen wurde. Sie feuerten nur auf diejenigen, die sich versteckten – wer einfach nur vorbeilief, blieb unbehelligt. Das beruhigte uns.
Als der Fluss der Fliehenden abriss, kam ein amerikanischer Soldat auf unseren Luftschutzraum zu. Ich hatte Angst, dass er uns erschießen würde, wenn er uns im Versteck fand und lief daher mit erhobenen Händen heraus. Der überraschte Soldat richtete sein Gewehr auf mich und starrte mich an. „Kinasai“ („Komm her“) rief er. Ich rief zurück: „Komm du her. Hier drin liegt noch jemand, also komm du her.“ Aber der Amerikaner hielt nur stumm das Gewehr auf mich gerichtet. „Der Soldat ist vielleicht wütend. Ich gehe lieber vor“, sagte ich zu meiner Mutter. In diesem Moment traf ein Schuss die Steine neben mir und Steinsplitter flogen umher. „Er schießt auf mich!“ rief ich und rannte auf ihn zu. Der Soldat führte mich allein zu einem Banyanbaum neben einem Brunnen, wo noch etwa 15 andere Flüchtlinge warteten. Dann gingen wir alle in einer Reihe los, mit zwei Soldaten an der Spitze. Ich lief langsam am Ende und weil die Soldaten sich nicht umdrehten, machte ich kehrt und rannte zurück zum Luftschutzraum. Auf dem Weg schöpfte ich Wasser. Ich kochte sofort Reisbrei und ließ meine Mutter essen.
Am nächsten Tag kamen zwei Einheimische mit einer Trage zum Bunker, um meine Mutter zu holen. Sie hatten am Vortag gehört, wie ich gerufen hatte: „Hier ist noch jemand.“ Ich lief hinterher.
Wir wurden als Kriegsgefangene in ein Lager in Tomigusuku gebracht.
Meine Mutter hatte immer Zucker dabei und fütterte mich während unserer Flucht damit. Ich hatte nicht darum gebeten, aß aber, was meine Mutter mir den Mund steckte. Meine Mutter muss hungrig gewesen sein, denn sie gab immer nur mir zu essen und nahm selbst nichts.
(Tod der Mutter im Lager)
Ein Soldat und eine Frau, die eine Art Krankenschwester zu sein schien, fühlten nacheinander den Puls meiner Mutter. „Sie ist tot“, sagten sie, und riefen noch andere Leute herbei. Sie trugen meine Mutter auf einer Bahre zu einem großen Loch am Fuße des Berges und begruben sie dort. Eine alte Frau, die dabei war, wies mich an: „Es ist deine Mutter, also setz dich hin und falte die Hände zusammen.“ Ich setzte mich also direkt daneben und legte die Handflächen aufeinander.
(Meine Botschaft an die nächste Generation)
Den jungen Leuten von heute möchte ich sagen: „Ihr habt Glück, dass ihr in Frieden leben könnt. Damals im Krieg waren wir ständig auf der Flucht und viele wurden erschossen. Heute herrscht Frieden und wer ordentlich arbeitet, kann auch gut leben. Kümmert euch auch um eure Eltern.“ Das ist meine Botschaft.