Krieg und neuer AnfangFilmische Zeitzeugenberichte über den Krieg und die Zeit danach

Ie-jima, eine verwüstete Insel

Herr Seitoku Shimabukuro

Geburtsjahr:1937

Geburtsort: Ie-jima

Ie-Jima vor der Verschärfung des Krieges

 Während der Schlacht von Okinawa war ich sieben Jahre alt und in der ersten Klasse der Grundschule. Ich habe keine genaue Erinnerung daran, auf der Schulbank gesessen und gelernt zu haben. Das Einzige woran ich mich erinnere, sind Luftschutzübungen und das wir Trainingsdrills der Soldaten angeschaut haben.
 Das war im Jahr 1944, dem Jahr des Luftangriffs vom 10. Oktober. Kurz bevor der Krieg begann, wurden auf der Hauptinsel Okinawa viele Leute mobilisiert, um sich der „Ie Island Airfield Costruction Support Quad“ anzuschließen. Aus Nakijin und Motobu in der Nähe der Insel Ie-jima brachten die Helfer ihre Pferde und Wagen mit. Auch aus den südlichen und mittleren Teilen Okinawa kamen die Unterstützungstrupps. Wir beherbergten in unserem Haus einen Arbeiter, der aus Nakijin nach Ie-jima gekommen war. Als wir später nach Nakijin evakuieren mussten, nahm er uns in seinem Haus auf.

Evakuierung nach Nakijin

 Nach dem Luftangriff vom 10. Oktober bestiegen wir auf Befehl der japanischen Armee an der Ostküste, dort wo heute der Strand ist, mitten in der Nacht ein Landungsboot und überquerten das Meer. Wir landeten in Hamazaki in Motobu. Von dort ging es zu Fuß weiter nach Nakijin. Als wir ankamen, war es Morgens um 6 Uhr. In dieser Nacht kam ich nicht zum schlafen. Ich war schon sieben Jahre alt und trug mein eigenes Gepäck. Mein Bruder war erst zwei Jahre alt. Er konnte noch nichts tragen, aber er bekam eine Wasserflasche um den Hals gehängt und musste die gesamte lange Strecke zusammen mit den Erwachsenen laufen. Als er zu weinen anfing, machten wir 30 Minuten Pause und liefen dann weiter. Unsere Evakuierung nahm mehr Zeit in Anspruch, als die der anderen Familien. Meine Mutter und mein Vater trugen bereits so viel wie es nur ging. Darum konnten sie meinen Bruder nicht auf den Arm nehmen. Mein Vater hatte den unteren Teil seines rechten Armes verloren. Er konnte aufgrund dieser Behinderung nicht kämpfen und durfte darum die Insel Ie-jima verlassen. Diese Tatsache hat ihm das Leben gerettet.
 Wir wurden nach Yonamine in Nakijin evakuiert. Dort blieben wir aber nicht sehr lange, nur einige Tage. Jeden Morgen evakuierten wir auf den Gogayama und wenn die Sonne unterging, begaben wir uns wieder nach Yonamine. Das wiederholten wir jeden Tag. Etwas ist mir tief in Erinnerung geblieben. Es gab an unserem Evkuierungsort einen großen Gajumaru Baum. Wenn man auf den Baum kletterte und in Richtung Ie-jima blickte, konnte man jeden Tag die feuerrot brennende Insel sehen. Als Kind dachte ich darüber nach, ob unser eigenes Haus wohl brannte, ob die Häuser in der Nachbarschaft brannten und stellte mir vor wie viele Häuser wohl vom Feuer verschont geblieben waren. Diese Sorge um meine geliebte Insel, dass hat einen tiefen Eindruck hinterlassen

Gefangennahme und Internierung in Nago

 An dem Tag, an dem ich gefangen genommen wurde, gab es keinerlei Anweisungen und mir wurde gesagt, dass ich auch im Hause bleiben könne. Deshalb ging ich nicht in die Berge und ruhte mich im Haus aus. So gegen Mittags um 12 Uhr gab es auf einmal den Befehl sofort an die Küste, anstatt in die Berge zu fliehen, da die Amerikaner gelandet sind. In großer Eile flohen alle Flüchtlinge in Richtung Küste und wir versteckten uns in einem Palmenfarnwäldchen. Dort wurden wir alle von den Amerikanern gefangen genommen und nach Nago in das Ourazaki Internierungslager gebracht. Wo wir für ein, zwei Monate vorläufig untergebracht wurden. Danach wurden wir nach Kushi verlegt. Wir wurden in einem von den US-Streitkräften gebauten Flüchtlingslager untergebracht. In dem Lager blieb die evakuierte Zivilbevölkerung von Ie-jima für zwei Jahre. Ungefähr 2000 bis 3000 Leute waren dort interniert.

Unterbringungsort der Bevölkerung von Ie-jima

 Weitere 2000 Leute, die nach unserer Evakuierung auf Ie-jima gefangen genommen wurden, wurden zuerst auf den Kerama Inseln untergebracht. Nach einigen Monaten wurden sie aufgeteilt. Ein Teil wurde zu uns nach Kushi verlegt. Die anderen kamen in ein Lagen nach Motobu. Während unseres zweijährigen Aufenthaltes im Flüchtlingslager, bildete sich eine Verwaltung und in Kushi, Nago wurde das Ie-jima Rathaus eingerichtet. In dem Lager gab es einen Brand. Das Haus, in dem wir wohnten, brannte ab und ich rannte mit nichts als den Kleidern am Leib hinaus. Das Lagerleben war eine sehr große Herausforderung.

Lebensmittelknappheit.

 Am schlimmsten am Lagerleben in Kushi war die Lebensmittelknappheit. Wollte man auf den Feldern von Kushi auch nur eine Süßkartoffel ausgraben, wurde man sofort festgehalten. Es waren Wächter da die aufpassten, dass niemand Kartoffeln stahl. Wir konnten nicht einmal Kazura (Kartoffelblätter) von den Feldern sammeln. Wir wurden schon misstrauisch beäugt, wenn wir nur am Feldrand entlangliefen. Es blieb uns nur, die Gräser vom Wegesrand, welche essbar aussahen zu pflücken und sie zu verzehren. Mit den Feldrationen, die von der US-Armee verteilt wurden, mussten wir drei Tage lang auskommen. Meine Mutter und mein kleiner Bruder waren kurz davor, an Unterernährung zu sterben. Mit meinem Vater zog ich los um Frösche zu fangen, aber selbst wenn wir 40 oder 50 Frösche fingen, reichte das nicht für eine Mahlzeit. Außer den Schenkeln konnte man kaum etwas essen, sodass sie nicht viel zusätzliche Nahrung lieferten.
 Eine ältere Frau erklärte mir, dass die Mäuse im Haus im örtlichen Dialekt Yaaboo heißen und ich Yaaboo fangen soll, für meine Familie zum essen. Man konnte sie leicht mit bloßen Händen unter dem Feuerholz oder im Gras fangen. Es gab auch jede Menge große Mäuse. Ich fing etwa einen halben Sack voll Mäuse und die alte Frau bereitete sie für mich zu. Ich teilte die Mäuse mit ihr und wir liessen sie uns alle gemeinsam schmecken. Auf diese Weise sind wir am Leben geblieben.

Rückkehr nach Ie-Jima und Wiederaufbau

 Im März 1947, durften wir endlich ,nach zwei Jahren, wieder nach Ie-jima zurückkehren. Alle Bewohner der Insel freuten sich riesig darüber. An Bord des Schiffes, das nach Ie-Jima fuhr, trug jeder große Erwartungen in seiner Brust. Als wir jedoch den ersten Fuß an Land setzen bot sich uns ein Anblick, der völlig anders war von dem, was wir vor dem Krieg kannten. Kein einziges Haus, keinen einzigen Baum war übrig geblieben. Alles was es noch zusehen gab, waren US-Militärfahrzeuge. Auf einem von Korallensteinen gesäumten Platz sah man die Armeefahrzeuge kommen und gehen. Es fühlte sich an wie eine Sinnestäuschung, als ob wir irgendwo auf einem Stützpunkt und nicht auf unserer Insel angekommen wären. Es wurde erzählt, dass einige Leute so geschockt waren, dass sie kein Wort mehr herausbrachten. Ich hatte keine Ahnung, wo einmal unser Haus gestanden hatte.
 Östlich der heutigen Ie-jima Grundschule gab es Quonset-Baracken (halbrunde Wellblechbaracken), strohgedeckte Hütten und Zelte. Hier lebten wir erst einmal wieder alle gemeinsam. Das ging so für ungefähr ein Jahr. Wir suchten nach unseren eigenem Grundstück, aber nicht ein einziges Gebäude, nicht einmal ein einziger Schweinestall stand mehr. Zuerst bauten wir eine kleine Hütte. Dafür musste man erst einmal sein Land dafür wieder herrichten. Dort wo die Häuser nur abgebrannt war, ging es noch einigermaßen, aber unser Haus war von Panzern und anderem schweren Kriegsgerät zerstört worden. Wir suchten in den Trümmern nach Dachziegeln, von denen einige erhalten geblieben waren, und anderem wiederverwendbaren Materialien. Was wir fanden, waren menschliche Schädel, gebleichte Skelette und Giftschlangen. Die Leute machten sich damals nicht so viel aus den Giftschlangen. Wir versuchten nichtmal sie zu töten. Wie wollten nur so schnell wie möglich unser Haus wieder aufbauen. Wir fällten die Gajumaru und Fukugi Bäume, die nicht verbrannt waren und bauten uns daraus eine Holzhütte mit Erdfundament.
 Tausende Menschen starben auf Ie-jima. Auf so einer kleinen Insel, sind so viele Leute ums Leben gekommen. Nach dem Krieg herrschte überall Lebensmittelknappheit. Überall auf den Süßkartoffelackern sprossen die grünen Blätter, Kazura genannt. Wenn man voll Erwartung mit einem Stock nachschaute, ob bereits eine große Süßkartoffel zu ernten ist, fand man einen menschlichen Schädel oder Knochenreste. Die Kazura wurden von den menschlichen Körpern der Kriegstoten gedüngt. Es wurden 10 Ölfässer aufgestellt und die menschlichen Überreste in sie hinein gelegt. Lebte man in der Nähe der Gebeine-Sammelstelle, brachte man sie selber dort hin. In weiter entfernt gelegen Dörfer, lies man sie erst einmal stehen und es kamen Vertreter der Gemeinde, die sie abholten. Pferde und Wagen gab es noch nicht. Bevor alle Einwohner der Insel nach Ie-jima zurück durften, war ein Vortrupp von 100 Jugendlichen rekrutiert worden, um erste Aufräumarbeiten vorzunehmen. Sie erzählten später, dass ihre einzige Aufgabe darin bestanden hatte menschliche Gebeine zu bergen. Solche Geschichten haben wir von ihnen gehört.

Das LCT Explosionsunglück

 Es passierte, als ich 11 Jahre alt war. Während den Sommerferien der fünften Klasse. Ich war mit meinem Vater in Motobu und wir fuhren mit dem Schiff zurück. Wir hatten vor in Motobu zu übernachten, aber der Plan änderte sich plötzlich und es wurde nur ein Tagesausflug. Ich hatte nicht mal Zeit mein Lunchpaket zu essen und stieg mit hungrigem Magen auf das Schiff. Zurück in Ie-jima wollte ich sofort mein Lunchpaket essen, aber die Munitionstransporter der US-Armee die hin- und herfuhren, wirbelten so viel Staub auf, dass ich dort nicht essen konnte. Ich war durstig, schnürte noch einmal mein Lunchpaket zusammen und ging zur Küche des Hauses, dass direkt am Hafen stand. Gerade als ich mir eine Kelle Wasser schöpfen wollte, gab es plötzlich ein lauter Knall, der meine Ohren fast zum Platzen brachte und die Umgebung pechschwarz werden ließ. Als es wieder hell wurde und ich um mich blickte, rannten Menschen hin und her und ich hörte Schreie aus allen Richtungen. Es war eine schreckliche Tragödie.
 Ich war verwirrt und rannte nach Hause. Als ich dort ankam, war meine Mutter total überrascht mich zu sehen. Sie fragte mich, warum wir schon am selben Tag wieder zurückgekommen waren. Ich erzählte ihr was passiert ist. Sie fragte wo mein Vater ist, aber ich konnte ihr keine Antwort geben. Ich wusste nicht ob er in Sicherheit war. Ich bemerkte, dass ich immer noch die Schöpfkelle in der Hand hielt. Ich war so verängstigt, dass ich sie nicht loslassen konnte. Meine Mutter entfernte einen Finger nach dem anderen von der Schöpfkelle und fragte mich, wo ich Wasser getrunken habe. Aber ich konnte mich an nichts erinnern. Meine Mutter nahm an, dass mein Vater tot war. Bevor ich nach Hause gekommen war, hatte man sich bereits erzählt, dass alle Passagier der Fähre ums Leben gekommen sind. Und doch kam ihr Sohn allein zurück, ohne ihren Mann. Meine Mutter glaubte, dass mein Vater tot war und bat ihre Verwandten ihr bei der Suche zu helfen. Wir gingen alle zum Hafen, um nach meinen Vater zu suchen.
Der Anblick war….Ich weiß nicht wie ich es ausdrücken soll. Der normalerweise im Sonnenlicht glimmernde schöne weiße Sandstrand hatte sich nach durch die Explosion schwarz verfärbt. Überall waren die Trümmer des LCT (Panzerlandungsschiff) und Bombensplitter verstreut. Alle waren in Panik. Es war die Hölle auf Erden. Schwarzen Klumpen waren als menschliche Leichen zu erkennen, aber mehr auch nicht. Keiner wusste, wer die Leichen waren. Mein Vater hatte bei einem Vorkriegsunfall seine rechte Hand verloren. Unter den sechs Verwandten am Strand, befand sich die ältere Schwester meines Vaters. Meine Tante sah umher und fand eine Leiche ohne rechte Hand. Die Hand war anscheinend nicht durch. die Explosion abgetrennt worden, deshalb nahm sie an, dass es sich um ihren Bruder handelt. „Das ist mein Bruder, kein Zweifel“, sagte sie und alle brachen in Tränen aus. Mir war noch nicht richtig bewußt, dass mein Vater tot ist. Ich stand einfach nur wie betäubt da. Plötzlich hörte ich hinter mir einen lauten Schrei. „Seitoku! Du bist am Leben!“, als ich mich umdrehte, um zu sehen, wer geschrien hatte, sah ich meinen Vater. Mein Vater, der eigentlich tot sein sollte, war am Leben. Es war eine dramatische Wendung, wie in einem Theaterstück. Mein Vater und ich wurden gerettet, aber der Cousin meines Vaters, der auf demselben Schiff gewesen war, kam bei dem Unglück ums Leben.
 Auch der nächste Tag war schrecklich. Überall lagen Leichen herum. Auch vom Meer wurden Leichen angespült. Keine der Leichen konnte identifiziert werden. Der Jugendverein und die Feuerwehr wurden mobilisiert und fingen an die Toten zu bergen. Neben ihnen standen Leute und riefen die Namen ihrer Angehörigen, die heimkommen sollten, aber nicht zurückgekommen waren. Auch der Tag nach der Explosion war die Hölle.

Ie-Jimas Geschichte des Leidens.

 Die Bewohnern von Ie-Jima haben in diesem Krieg viel Leid erfahren. Sie haben die Leiden und Mühen Flüchtlingslebens ertragen Sie hatten keine Zeit sich auszuruhen und ihren Körper und ihre Seelen zu heilen. Und trotz dieses Zustandes der völligen Erschöpfung gaben sie nicht auf und spornten sich an, mit aller Kraft weiterzuleben aus den Trümmern heraus ein neues Leben zu beginnen. Während dieser verzweifelten Anstrengung ereignete sich dieser Unfall. Die Explosion eines Munitionstransportschiffes der US-Armee. Gerade als wir es geschafft hatten zu überleben und allmählich unsere Träume und unsere Fähigkeit zu lächeln wiedererlangt hatten, geschah dieser tragische Vorfall und fügte allen schweren psychischen Schaden zu. Es gab viele Hinterbliebene, vor allem unter den Verwandten der Verstorbenen, die all ihren Lebensmut und all ihre Hoffnung verloren hatten. So war die Situation damals. Trotzdem mussten wir weiterleben. Wir hatten das Gefühl etwas tun zu müssen, unser Leben wieder in den Griff zu bekommen und wir zogen uns verzweifelt wieder auf die Beine.
 1953, nur fünf Jahre nach dem Unfall, ordnete das US-Militär die Räumung des Dorfes Maja an, um das Gebiet für einen Schießplatz zu nutzen. Die Mitglieder der „Tochi o Mamoru Kai“ (Verein für den Schutz unseres Landbesitz) um Shoko Ahagon herum, veranstalteten eine Bittmarsch quer durch Okinawa, um gegen die geplante Räumung zu protestieren. Sie führten danach auch einen Hungerstreik durch. Egal wie sehr wir gegen die Räumung protestierten, wir wurden gewaltsam vertrieben. Ein oder zwei Jahren später begann das US-Militär mit Schießübungen, und die Dörfer Maja und Nishizaki litten unter diesen Übungen.

Meine Botschaft an die jungen Leute

 Die Geschichte von Ie-Jima während und nach dem Krieg ist voller Wunden. Die Inselbewohner haben eine schmerzvolle und vernarbte Geschichte hinter sich. Wir können nicht über die Nachkriegsgeschichte von Ie-jima reden, ohne die Probleme mit dem US-Stützpunkt auf der Insel zu erwähnen. Es ist unmöglich über die Geschichte von Ie-jima zu reden, ohne den LCT-Unfall zu erwähnen. Es ist unmöglich über die Geschichte von Ie-jima zu reden, ohne über Leiden in den Flüchtlingslagern zu sprechen. Das sind alles Erfahrungen wie aus der Hölle auf Erden. Wenn wir auf die Geschichte dieser Insel zurückblicken, möchte ich, dass die junge Generation und die kommenden Generationen die wahren Ereignisse von Ie-jima, dass ihnen die Geschichte ausführlich vermittelt wird. Darüber hinaus wünsche ich mir, dass sie sich anstrengen, neue Methoden und Wege zu finden, auf dieser abgelegen Insel zu leben.


 Herr Seitoku Shimabukro arbeitete für die Gemeindeverwaltung von Ie-jima und war von
1989 bis 2005 für 16 Jahre als Bürgermeister tätig.